Auf Wanderschaft: Konditorin Tina Siefer aus Michelbach war vier Jahre und zwei Monate auf der Walz, um sich fachlich und persönlich weiterzuentwickeln."Wir reisen, um zu arbeiten und arbeiten, um zu reisen"
Das Handwerk bietet vielfältige Möglichkeiten, ins Ausland zu gehen, fremde Kulturen kennenzulernen und sich weiterzubilden. Eine davon ist die traditionelle und mehrjährige Handwerksgesellenwanderschaft, auch „Walz“ genannt, die sich an das erfolgreiche Absolvieren einer Lehre anschließt. Die damit verbundenen Bräuche gehen zum Teil bis ins Mittelalter zurück. Ziel der Walz war und ist die individuelle Weiterentwicklung, um Meister und Gründer werden zu können. Insgesamt können Gesellinnen und Gesellen aus über 50 Gewerken auf die Walz gehen, wobei dies insbesondere in den Bauhaupt- und –nebengewerben großen Anklang findet. Im Jahr 2014 hat die Unesco die Walz zum immateriellen Kulturerbe in Deutschland erklärt. Tina Siefer ist Gesellin im Konditorenhandwerk und von ihrer Wanderschaft in ihre Heimat Michelbach im Rheingau-Taunus-Kreis zurückgekehrt. Vier Jahre und zwei Monate war die 27-Jährige unterwegs.
Frau Siefer, als Sie entschlossen haben, auf die Walz zu gehen, haben sie da Ihre sieben Sachen gepackt und sind losgegangen?
Nein, so einfach geht das leider nicht. Man muss sich zunächst einen Schacht suchen, also eine Gesellenvereinigung, mit der man auf Wanderschaft gehen möchte. Ich habe mich für den Freien Begegnungsschacht entschieden. Mein Bruder war mit dieser Vereinigung zuvor auch auf der Walz. Drei Mal im Jahr richtet der Schacht ein großes Treffen aus. Daran können Interessierte teilnehmen, die mit dem Gedanken spielen, auf Wanderschaft zu gehen. Dort trifft man dann Gesellinnen und Gesellen, die aktuell auf der Wanderschaft sind oder in der Vergangenheit auf der Walz waren. Wenn man einmal auf Wanderschaft war, ist man ein ganzes Leben lang ein Teil dieser Tradition.
Sind Sie dann mit Ihrem Bruder zu diesem Treffen gegangen und haben danach für sich entschieden, dass Sie auch ein Teil davon werden möchten?
Genau, allerdings sollte man mehrere Male zu diesen Treffen gehen, um die Wandergesellinnen und –gesellen besser kennenzulernen. Von ihnen erfährt man, was es bedeutet, auf Wanderschaft zu sein und natürlich, was man vorbereiten muss. Wenn man dann immer noch überzeugt ist, dann muss man seinen Mut zusammennehmen und jemanden fragen, ob er einen von zuhause abholt.
Auf Wanderschaft kann man also nicht alleine starten?
Richtig, man muss jemanden finden, der schon mindestens ein Jahr unterwegs ist und Erfahrungen gesammelt hat. Gerade weil es bei der Walz auch darum geht, eine jahrhundertealte Tradition fortzuführen, sollte die Person, die einen zu Beginn begleitet, bereits Wissen weitergeben können. Die Begleitperson holt einen aber nicht alleine ab. Am Tag der Abreise gibt es eine Losgehparty, zu der auch viele andere Gesellinnen und Gesellen, die auf Wanderschaft sind, vorbeikommen. Mich hat eine Landmaschinenschlosserin aus Schleswig-Holstein mit 40 weiteren Wandergesellinnen und -gesellen von zu Hause abgeholt. Das war eine riesen Feier. Danach reist man drei bis vier Monate mit seiner Begleitperson durch die Gegend. Nach vier Monaten hat mich die Landmaschinenschlosserin von der Leine gelassen.
Ok, Sie wurden zuhause abgeholt und dann ging‘s los?
Nicht ganz. Man verbuddelt erst noch am Ortsschild des Heimatdorfes oder der Heimatstadt zwei Flaschen. Eine Flasche mit Schnaps, die man zur Hälfe mit allen Anwesenden trinkt, und eine Flasche mit Zetteln, auf denen Wünsche für die bevorstehende Zeit geschrieben stehen. Damit verabschiedet man sich in gewisser Weise von seiner Heimat, denn dieser wird man sich in der nächsten Zeit bis auf 50 Kilometer nicht mehr nähern. Familie und Freunde helfen einem anschließend über das Ortsschild zu klettern – und dann kann es losgehen. Das Überklettern des Ortsschilds ist übrigens eine alte Tradition die stellvertretend dafür steht, dass man die Stadtmauer überschreitet.
Sind die 50 Kilometer der berühmte Bannkreis, der im Zusammenhang mit der Walz immer mal zur Sprache kommt?
Bei der Walz geht es ja darum, Erfahrungen losgelöst von der eigenen Heimat zu sammeln, um daran zu wachsen und sich weiterzuentwickeln. Deshalb gibt es diesen Bannkreis von 50 Kilometern um die eigene Heimat.
Stimmt es, dass man während der Wanderschaft kein Geld für die eigene Fortbewegung ausgeben darf?
Ja, das stimmt. Das heißt also schlicht und ergreifend: laufen oder trampen. Aber man ist auch dazu angehalten, für Übernachtungen kein Geld auszugeben. Man übernachtet im Freien oder bei Menschen, die man während der Reise kennenlernt.
Gibt es noch mehr Regeln neben dem Bannkreis und der Fortbewegung, die mit der Wanderschaft verknüpft sind?
Auf jeden Fall. Die Walz ist etwas Besonderes und unabhängig davon, mit welchem Schacht man reist, orientieren sich alle Wandergesellinnen und -gesellen an denselben Richtlinien. Zu aller erst muss man natürlich den Gesellenbrief in einem traditionellen Handwerk haben. Man muss unter 30 Jahre alt sein, ledig, kinderlos, schuldenfrei und nicht vorbestraft. Hintergrund hierfür ist, dass man nicht vor Verantwortung davonlaufen soll, sondern bewusst handelt. Jeder, der auf die Walz geht, startet mit fünf Euro, damit alle die gleichen Voraussetzungen haben. Man benutzt auch keine portablen multimedialen Kommunikationsgeräte, also beispielsweise ein Smartphone oder einen Laptop, und das Gepäck trägt man eingewickelt in Baumwolltüchern, die sich Charlottenburger nennen. Man darf maximal drei Monate an einem Ort verweilen und wenn man auf die Walz geht, dann ist man mindestens drei Jahre und einen Tag unterwegs. Ich bin beispielsweise für vier Jahre und zwei Monate auf Wanderschaft gewesen.
Das Buch, das vor Ihnen liegt, das ist sicher Ihr Wanderbuch, oder? Was hat es denn damit auf sich?
Dafür sollten wir noch einmal einen Schritt zurückgehen. Wenn man auf Wanderschaft geht, dann legt man für diese Zeit seinen Nachnamen ab. Also, wenn wir uns zu dieser Zeit begegnet wären, dann wäre ich nicht Tina Siefer gewesen, sondern Tina Fremde Konditorin FBS. Jede Wandergesellin und jeder Wandergeselle trägt den Nachnamen ‚Fremde‘ ergänzt um den eigenen Beruf. Das FBS steht hier für den Freien Begegnungsschacht, mit dem ich gereist bin. Den Nachnamen legt man für diese Zeit ab, damit man nicht erkennt, aus welchem Haus man kommt. Gerade in früheren Zeiten hat der Nachname noch viel über den sozialen Stand der Familie verraten. Für die Zeit der Wanderschaft wird der Name, den man dann trägt, im Wanderbuch festgehalten. Damit weisen Wandergesellen sich untereinander aus. Für Notfälle oder ähnliches hat man seinen Personalausweis natürlich dennoch dabei.
Was haben Sie noch alles im Wanderbuch notiert?
Zum Beispiel Reiseaufzeichnungen oder auch Arbeitszeugnisse bewahrt man darin auf. Früher war es eine Pflicht, heute ist es freiwillig, dass man, egal in welchem Ort man unterwegs ist, immer als ersten Stopp das Rathaus ansteuert. Dort erhält man einen Stempel mit Datum in das Wanderbuch. Ich bin froh, dass ich die Stempel eingesammelt habe, denn rückblickend ist es eine wunderschöne Erinnerung an alle Plätze, die ich gesehen habe.
Jetzt habe ich aber noch mal eine Frage zum Charlottenburger: hier gilt sicherlich ‚weniger ist mehr‘, oder?
Auf jeden Fall! Man hat grundsätzlich nicht viel Gepäck dabei und ganz ehrlich, man braucht auch nicht viel. Während man reist, hat man eine Reisekluft an. Eine Arbeitskluft führt man im Gepäck mit. Dann kommt noch ein Schlafsack, Wechselwäsche sowie ein kleiner Waschbeutel mit Seife, Deo, Zahnpasta und einer Zahnbürste dazu. Und dann ist man auch schon bei rund 10 Kilogramm.
Ist die Kluft verpflichtend, wenn man auf Wanderschaft geht?
Sie gehört einfach dazu. An der äußeren Erscheinung können Reisende und Mitmenschen einen direkt als Wandergesellen identifizieren. Das ist sehr hilfreich, denn man sagt, das Wort eines Wandergesellen ist Gold wert. Also, wenn eine Handwerkerin oder ein Handwerker auf Wanderschaft eine Abmachung trifft, dann halten sie auch, was sie versprechen.
Die Kluft geht also mit einem gewissen Vertrauensvorschuss einher?
So könnte man das sagen, ja.
Und wie sah Ihre Kluft genau aus?
Eine Kluft besteht immer aus einem weißen Hemd, einer Weste mit acht Knöpfen, die für acht Stunden Arbeit am Tag stehen, einer Jacke mit sechs Knöpfen, die sechs Arbeitstage pro Woche symbolisieren, und sechs Knöpfe am Umschlag vom Jackenärmel. Die stehen für drei Jahre Lehre und drei Jahre Wanderschaft. Ferner entscheidet das eigene Gewerk darüber, welche Farbe eine Kluft hat. Bei den lebensmittelverarbeitenden Gewerken, so war es bei mir, ist die Kluft schwarz-weiß kariert. Steinverarbeitende Gewerke tragen beispielsweise eine graue, textil- und formgebende Gewerke eine rote und holzverarbeitende Gewerke eine schwarze Kluft. Dazu kommt noch die sogenannte Ehrbarkeit, ein Schlips, der von Männern und Frauen getragen wird. Beim Freien Begegnungsschacht ist dieser grau. Zu meiner Kluft habe ich Wanderschuhe getragen.
Wie hat das finanziell geklappt? Sie sagten ja, man startet mit 5 Euro in der Tasche.
Ein Grundsatz bei der Wanderschaft ist ‚Wir reisen, um zu arbeiten und arbeiten, um zu reisen‘. Von der Landmaschinenschlosserin, die mich zu Beginn der Walz begleitet hat, habe ich gelernt, auf Betriebe zuzugehen und meine Arbeitsleistung anzubieten. So habe ich unterschiedliche Arbeitstechniken von unterschiedlichen Meistern im Konditorenhandwerk kennengelernt. Beispielsweise wird ein Apfelkuchen im Schwabenland ganz anders gebacken als in Ostfriesland. Oder einmal war ich in einem Betrieb, der zwölf Filialen hat. Gerade hinsichtlich der Betriebsführung war das wirklich spannend. Genau das ist ja auch das Ziel von der Wanderschaft, sich handwerklich, kulturell und persönlich zu entwickeln. Viele denken übrigens, man arbeitet in den Betrieben für Kost und Logis, aber das stimmt nicht. Man erhält den ortsüblichen Lohn. Von dem Geld, dass ich so in Deutschland verdient habe, bin ich dann durch Europa gereist.
Welche Länder haben Sie bereist?
Österreich, Belgien, Frankreich, Spanien, Portugal, Polen, Rumänien, die Schweiz und die Kanaren.
Gab es während Ihrer Zeit auf der Walz mal einen Moment, an dem Sie am liebsten alles hingeschmissen hätten?
Natürlich gibt es Momente, in denen man sich durchbeißen muss. Zum Beispiel, wenn es im Winter sehr kalt ist und man draußen schlafen muss. Oder aber, wenn man vier Stunden durch den Regen läuft. Dann hat sich die Kluft so vollgesogen mit Wasser, dass sie zwei Tage lang nass ist. Das sind natürlich Erlebnisse, die herausfordernd sind. Aber ich habe nie daran gedacht, die Wanderschaft abzubrechen.
Frau Siefer, wie würden Sie versuchen, jemanden zu überzeugen, auf die Walz zu gehen?
Auf meinen Reisen habe ich sehr viele Menschen getroffen, die davon erzählt haben, dass sie auch immer mal aufbrechen wollten, sich aber nie getraut oder überwunden haben. Ich kann nur betonen, die drei Jahre, die man mindestens auf Wanderschaft geht, sind in keinem Falle verloren, sondern man gewinnt unglaubliche Erfahrungen, die einem keiner mehr nehmen kann. Die schönste Erkenntnis, die ich teilen kann, ist, dass es überall sehr freundliche, hilfsbereite und gastfreundliche Menschen gibt. Und alleine das ist in meinen Augen schon eine Reise wert.